Eins mit dem Schwyzerörgeli
von Erwin Dettling für 'MittenDrin'Rees Gwerder: Ein Leben im Stegreif.
Rees. Der Vorname ist universal. Gwerder weniger. Rees: So könnte ein indischer Brahmane heissen oder ein Rap-Artist aus East Los Angeles. Rees aus dem Muotatal gibt es ohne Gwerder nicht. Der Rees und der Gwerder haben sich mit dem Schwyzerörgeli vom Oberlauf des Hüribachs und von den Schluchten und Schründen des Eigeli heybsch in die Schweizer Musikszene gespielt und weit darüber hinaus.
Von den steinigen Planggen des Muotatals und den stotzigen Sunnennösseli des hinteren Bisistals kam Rees Gwerder herunter. Ich hörte zum ersten Mal von ihm als Bub in Goldau. Rees‘ Schottisch und Polkas klirrten bei uns zwischen den mit saurem Most und billigem Veltliner gefüllten Gläsern. Die Töne von Rees‘ Tänzen gruben sich tief in meinem musikalischen Langzeitgedächtnis ein. Klicke ich heute eine Scheibe mit seiner Musik an, bewegt sich noch immer mein Gemüt. Der Takt des Ländler-Walzers „Dr Mürrälär“ trägt mich in der Phantasie im Passgang aufs Stafelistöckli, vorbei an Bächen und mit dem Geruch von Kuhfladen und würzigem Schnitttabak in der Nase.
Takt versetzt Berge.
Lange bevor ich Rees Gwerder durch die Rolling Stones ersetzte, stieg er aus dem Muotatal heraus. Seine Musik sollte nicht an den Nössen der archaischen Gegend zerschellen. Bis heute ist er in seiner engeren Heimat kein Prophet, obwohl Rees Gwerder neben dem Höllloch und den Wetterschmöckern eines der bekanntesten Naturereignisse der Innerschweiz geblieben ist. Mit kostbarer Sturheit schaffte Rees Gwerder im Laufe von Jahrzehnten, wovon viele Fabrikanten alpiner Wohlgefühlsmusik und auch die Speerspitzen der Rockfraktion träumen: Rees Gwerder kommt vor in den Racks der renommierten Plattengeschäfte von Zürich, Herisau, Genf, Tokio und New York.
Angefangen hatte der 1911 geborene Rees, bevor er in die Schule kam. Er spielte auf einer achtbässigen Eichhorn-Orgel die zweiteiligen Tänze seines Vaters nach dem Gehör. Später änderte die Mode. Rees Gwerder küngelte ein drittes Teil an die bestehenden Stücke und hackte die Schottisch, Mazurkas, Walzer und Polkas im unverwechselbaren Takt in die Eichhorn-Orgel. Er wandelte die mit dem Gehör überlieferten Stücke, bis sie in seine Finger passten. Gwerder ist mehr Arrangeur und Vertoner als Komponist. Aus jener fernen Zeit sind einige Stümpäli, zweiteilige Tänze, geblieben. Zum Beispiel „Dr Letscht“. Eingeschweisst in seine Töne blieben das Aroma des Miststocks, der Zieger-Stöckli, des rässen Käses und der hochgebundenen Kuhschwänze. Auch das Tiefgrün des Muotatals, das Vierschrötige und Gegenreformatorische, der Geruch des Süügwäsch und der tosenden Bäche wurden nicht aus seinen Tänzen herausgedurt, wie in der Mazurka „Bim Rössli-Adolf“ zu hören ist. Seine Melodien sind wie ethnographische Phonogramme.
Achtbässig auf und davon.
Takt ist alles in Rees Gwerders Musik. Was er darunter versteht, erklärte Rees selber: S‘Föhne Wisel‘s Seebi hed einisch gseid, er cha nüd, s‘Jackä Tönel, er tued unglych gleitig örgele“. Takt übte Rees in seinen Anfängen bei jedem Wetter mit klammen Fingern auf der Dorfbrücke von Hinterthal. Dabei war die rauhe Melodie der Muota. Die Eichhorn-Orgel gab nach. Sie wurde tangg und „...nach zwei Jahre isch änes Örgeli z‘Hudle und Fätze verroschtet gsy.“ Rees Gwerder nahm mit der Zeit achtzehn- und bis zu sechzigbässige Eichhorn-Örgeli in die Hände, mit denen er sich jahrzehntelang durch Spunten und Restaurants, durch Chilbis, Tanztage, Priies-Jasset und Schwingfeste örgelte. Rees beteiligte sich an musikalischen Wettspielen und gewann Goldkränze in Serie. Gwerder war früh ein böser Stegreif-Örgeler.
Sein musikalisches Revier reichte vom Muota- und Bisistal über Illgau, Riemenstalden, Schwyz, Arth-Goldau und nach Riedberg ZH, spät in seinem Leben bis ins Zürcher Hallenstadion und nach Amerika. Gwerders Welt war die Beiz, die Eckbank und der Stammtisch, nicht grosse Säle. Begleiten liess sich Rees „sakerämänt schön“ von einem zweiten Örgeli, einem Bass-Züger, einer Klarinette, ab und zu von einem Saxophon, von Juuzern, Chlefelern, Löffelern und Bödelern. Rees Gwerder machte Tanzmusik für Leute mit Schwielen an den Händen. Blieb das Publikum sitzen, wenn er zum „Lieneler“ ansetzte und die Akkorde durch seine Finger purzelten, trank er seine Chrütermilch bald aus, packte die Orgel ein und verschwand in seinen Zwilchhosen in der Dunkelheit.
Örgeln gegen schlechte Zeiten.
Eigentlich war Rees Gwerder ein Bauer und Imker wie viele seines Schlags. Jung musste der Pendler zwischen den Gadehuusli von Hürital (Winter) und Eigeli (Sommer) schmal durch. Skier und Velos gab es damals im Bisistal kaum. Die Stahlesel waren den bessergestellten Schächeler vorenthalten. Rees Gwerder musste jeden Zentimeter Geographie erschuenen... Die langen Wege, die Kälte, die Nässe, die Lauenen, die Gfrörni, das Eingeschneitsein und die kurzen Sommer haben sich in Gwerders Gemüt als schöpferischer Tresor abgelagert. Die Zeiten waren schlecht damals; so schlecht, dass viele Muotataler zu Beginn der zwanziger Jahre nach Amerika und nach Neuseeland auswanderten.
Die Zeiten mochten schlecht sein, aber Rees Gwerder und seinesgleichen örgelten sich in Muota- und Bisisthal über die wirtschaftlichen Krisen der Zwischenkriegszeit hinweg. Gwerders Talent hatte Stammbaum. Rees‘ Grossmutter - „s‘ isch eini vos Jäägäls gsy“ - war musikalisch. Sein Vater spielte auf einer sechsbässigen Iten-Orgel. Rees‘ Schwester musizierte, solange sie auf der Schule war: „De hetsi nämäneinisch müesse ufene Schtell und de isch fertig g‘örgelet gsy“. Mit 34 Jahren (1945) heiratete Rees Gwerder, zog vom Muotatal weg ins Heimetli seiner Frau auf den Gängigerberg zwischen Arth und Walchwil, wo er bis 1974 bauerte. Rees hatte zwei Töchter und eine Stieftochter. Später zog er zur Jüngsten nach Immensee. Als das Essen des Hausmanns Rees immer häufiger auf dem Herd anbrannte, liess er sich im Altersheim Arth einquartieren. Der urtümliche Meister starb dort am 4. Januar 1998 zu Klängen seiner Musik.
Rees Gwerder überdauert sich. Das war abzusehen. Er und seine Musik von weit her waren schon zu Lebzeiten Legende. Sie werden mit jedem Tag mehr zum Klassiker. Wie hat er das geschafft? Es gibt bessere, technisch versiertere, raffiniertere und phantasievollere Schwyzer-Örgeler als Rees Gwerder. Das ist aber nicht der Stoff, aus dem Legenden und Klassiker entstehen. Rees musizierte in den Spunten kompromisslos und herb, legte los mit seinen Kumpanen wie eine Soyus-Rakete, hielt sechs, sieben Stunden an den gleichen Takt, bis die Schädel der tanzenden Bauernsöhne neben den Mostgläsern auf die Tische krachten. Das machte Rees froh.
Hacken gegen Moden und Trends.
Gwerder setzte sich über die musikalischen Moden seiner Zeit stiernackig hinweg. Er vermied, in die Niederungen der Bergvagabunden, von den herrlichen Bergen und sonnigen Höhen hinabzusteigen. Ihm war fremd und gleichgültig, wie das Trachtenvolk auf dem Karussell der städtischen Musikanten-Stadl und der eurovisionellen Fröhlichkeit schunkelte. Den Studios der Allwetter-Schottisch-Fabrikanten und der Ethno-Rocker ging er lange aus dem Weg. Rees musste nicht von der Musik leben; er war Bauer, finanziell nicht von der Unterhaltungsindustrie abhängig, obwohl er mit einer renommierten Firma einen Plattenvertrag hatte. Die Schweizer Sauglattisten-Szene mit ihren Herz- und Schmerztextern interessierte sich kaum für Rees Gwerder. Für sie war die Musik des Muotathalers mit seinen beschränkten eichhornschen Bässen aus „Beinlimueter“ nichts als sennisches Gesumme, rückschrittlich, vertrüllt, borniert, hinterwäldlerisch.
Den städtischen Musikproduzenten der volkstümlichen Szene erschien Rees Gwerder nicht wirklich vermittelbar an ein grosses Publikum. Das dürfte Rees Gwerder nicht besonders gestört haben. Er hackte, schleipfte, sägte und schlirgte ein Leben lang auf seinem Örgeli aus innerem Antrieb. Während andere Musiker seiner Sparte sich wandelten und rankten, sich an die neuen Trends ankoppelten, kultivierte Rees seinen ureigenen Stil auf seinem Uf-und-Zue-Chaib. Instinktsicher und gnisset hielt er sich jahrzehntelang die Folklore-Abzocker vom Leib, die Höheres und den „Brissago-Rees“ im Sinne hatten. Das änderte sich mit der Zeit. Ethno-Musik ist gefragt. Stadtkids ziehen heute gerne mal Volkstümliches aus Mali und Bulgarien, aus Afghanistan und den Fidschi-Inseln herein. Dazwischen darf es auch mal ein Schwingfest mit Redbull sein. Rees Gwerder passt heute nicht schlecht ins heimatmüde, schweizerische Umfeld. Der Markt verlangt danach. Es gibt eine Reihe Labels, die Rees‘ Musik vermarkten. Rund 100 Tänze sind auf Bändern, Vinyl-Platten und CDs konserviert. In seinen besten Zeiten spielte Rees Gwerder dreihundert Stücke aus dem Stegreif. Die Hälfte seiner Stücke nahm er vielleicht mit ins Grab, wenn seine Schüler die Tänze vorher nicht doch noch auswendig gelernt haben.
Wo Töne sich erheben.
Rees Gwerder ging nach dem zweiten Weltkrieg weg von seinem Muetital. Von seinem neuen Heimetli auf dem Gängigerberg schaute er jahrzehntelang auf den Zugersee hinunter. Verglichen mit seiner engeren Heimat ist der Talboden zwischen Rigi und Rossberg eine liebliche Gegend. Eine gestelzte Autobahn (A4) hat die Landschaft in den siebziger Jahren zwar zersäbelt und das Ganze in die suburbane Modernität des Eisenbahnknotenpunkts von Arth-Goldau befördert. Wenig von dieser zersäbelten Landschaft schein in Rees‘ Musik eingeflossen zu sein.
Das Leben ist auch an der Muota nicht stehen geblieben, seit Rees auszog. Heute gelangt der Besucher auf einem schmalen Asphalt-Band ins Hürital, wo Rees‘ Familie überwinterte. Oben bei der Fuchsenplangg ist es zwar zugig wie damals, karg, steinig, g'högerig, rauh und urtümlich. Wenn es regnet, glotzen die Kühe und Kälber Löcher in die stotzigen Nössen hinein. Das Vieh bleibt störrisch auf dem Asphalt stehen. Hupen bringt wenig, zureden nützt viel mehr. Beim Liplisbüeler Seeli auf 1194 Metern ü.M. gibt es einige „Rusticos“ mit vorgehängten Solar-Panels. Auf dem Parkplatz der kleinen Siedlung stehen Allradfahrzeuge mit Nummernschildern aus dem Unterland. In der düsteren Beiz knistert auch im August das Feuer im Holzöfäli. Das „Echo vom Geisshimmel“ mit modernster Ruralromantik liegt in der Luft.
Ein Augenschein hinten im Bisistal zeigt, dass die Bergvagabunden überall sind. Beim Stausee der Salihöchi geht ein schmaler Weg hoch in Rees‘ frühes Sommerquartier Eigeli. Dort beginnt heute das Eidgenössische Jagd-Banngebiet. Zelten, Biken, Blumenpflücken und Skifahren sind verboten. Hunde müssen an der Leine geführt werden. Noch nicht gebändigt ist die Muota. Sie kann urplötzlich als Sturzbach von Alt Stafel herunterschiessen. Wenn ich der modernen Seilbahn auf die Glattalp den Rücken kehre, geht mir die Landschaft noch immer direkt in die Seele, am Stück oder in Häppchen.
Rees Gwerder – 2001?
Wird Rees Gwerders Musik überleben, wo heute so mancher den Enzian auf der Seele nach aussen stülpt? Passen seine Tänze in die Zeit des Alpendudlers, der geklonten Schafe und der gedopten Kühe und Schweine? Sind unsere Ohren spitz genug für Rees‘ „Schächägrund-Chilbi“? Werden wir Rees Gwerder nicht heillos verwechseln mit dem Ethno Fever und der Swatch mit dem Kuhfell-Armband? Wird „Dr Hosäsack Heiri“ von Rees die Zwerchfelle noch durchrütteln am Kebab-Stand und am Springroll-Fliessband? Werden Rees Gwerder’s achromatische Eichhornklänge die Himmelsboten der Pipilotti-Schweiz überstehen? Im Jahr 2001 kommen auf dem Expo-Gelände die „inszenierten Spaziergänge in die Ursehnsüchte“, das „Klangspielhaus“, das „Pict-O-Drome“ und viele Dürftigkeiten mehr auf uns zu. Die Eigenart der Gwerderschen Musik- und Tongebilde sind resistent gegen Mittelmässigkeit. Gwerder mag nicht der Beste sein auf seinem Instrument, aber er ist mit seinem Örgeli ziemlich eins geworden. Von denen, die das schaffen, gibt es wenige.
Hat Rees Gwerder NachfolgerInnen? Er hat Dutzende Örgeler gegen alle Gesetze der Musikpädagogik auf seine trügerisch einfachen Tänze gebracht. Sie kommen nicht unbedingt mit der krummen Brissago und Zwilchhose daher. Ich habe einen Rees-Schüler erlebt am Sihlsee mit gepiercetem Ohrläppchen, blond gefärbtem Haar und mit Plattform-Schuhen. Er schlug am Eingang des Spuntens einen Salto vorwärts, landete weich auf dem Eichenboden, setzte sich an den Stammtisch, stürzte ein Bier hinunter, nahm ein Eichhorn-Örgeli auf die Knie, hackte meisterlich „De Urchig Muotathaler“ herunter, gab das Örgeli einem Alten mit krummer Brissago und blaugestreiftem Hemd in die Hände, stand auf, schlug einen Salto rückwärts und verschwand mit der Kawasaki Richtung Hochybrig. Niemand am Stammtisch wunderte sich ausser mir.
___________Erwin Dettling, 46, Publizist, stammt aus Gersau. Als ehemaliger Lateinamerika-Korrespondent schreibt er zunehmend über Themen, die ihm aus der Ferne näher gerückt sind.
Christian Känzig hat verschiedene Fotoreportagen in der Zentralschweiz gemacht, unter anderem auch im 1998 erschienen Buch „Vom Kern der Schweiz“, (Verlag Kontrast Zürich), der sich auf der Alp Älggi im Kanton Obwalden befindet.
Beat Tschümperlin von Radio Central, SZ, hat 1991 in seiner Sendung Ländlerzmorgä die damals 80jährige Schwyzerörgelilegende Rees Gwerder während zwei Stunden interviewt. Dieses einmalige Dokument wird demnächst bei CSR Records als CD veröffentlicht.