Rees Gwerder - Ein Leben für die Volksmusik
Es ist sicher im Sinne von Rees, wenn ich versuche, den Menschen und Musiker und nicht den aussergewöhnlichen Musikanten zu porträtieren, denn er mochte nie, wenn man grosses Aufhebens um ihn machte.
Wer aber war dieser Rees Gwerder?
Viele nannten ihn „Schwyzerörgelikönig“, „Ländlerkönig“, „Volksmusik-König“, „urtümlichster Volksmusikant“, „der letzte echte Stegreifler“, „der populärste und beliebteste Schwyzerörgeler“ und sogar „Miles Davis der Alpen“.
Sicher ist: Rees Gwerder war bereits zu Lebzeiten eine Legende. Kaum ein Musiker hat die Schweizer Volksmusik nachhaltiger geprägt als Rees Gwerder. Mit seinem eigenen, präzisen Takt und dem lieblichen und gleichzeitig urchigen Musikstil, den man als einzigartig bezeichnen kann, war er eine herausragende Schwyzerörgeli-Persönlichkeit.
Andreas Gwerder wurde am 30. Juli 1911 auf der Alp Eigeli in Bisisthal (Muotathal) im Kanton Schwyz geboren. Er wuchs neben zwei Geschwistern in bescheidenen Verhältnissen auf. Im Sommer war er auf der Alp und in der kalten Jahreszeit in Hinterthal, im Bergheimet Hürithal zuhause. Nach Abschluss der Schulzeit machte er sich auf dem väterlichen Bauernbetrieb nützlich. Die wilde Natur und die rauhe Landschaft prägten seine Spielart und sein späteres Musizieren.
Als 5-jähriger Knirps lernte er auf dem 6-bässigen Iten-Örgeli seines Vaters zu spielen, und als 15-jähriger Knabe wusste er bereits an die 100 Tänzli vorzutragen. Mit 19 kaufte er sich seine erste 24-bässige Schwyzerorgel. Die ging aber bereits nach zwei Jahren kaputt, weil er öfters auch bei Nebel und nassem Wetter im Freien aufgespielt hatte, und dabei wurden die metallenen Stimmzungen des Örgelis rostig und brachen. Im Jahre 1932 erwarb er für 430 Franken seine erste 60-bässige Eichhorn-Orgel, die ihn bis ins hohe Alter begleitete.
Rees verstand es meisterhaft, sowohl mit diatonischen 6- bis 60-bässigen Schwyzer-Orgeln als auch mit den älteren Stöpselbass-Modellen umzugehen. Der „Eigeler-Rees“ war sein eigener Lehrmeister und Meister seines Fachs. Nicht weniger als gegen 230 Tänze wusste er vorzutragen. So originell und herkunftsgetreu wie er selber war, sind auch Titel und Namen seiner Stücke im Repertoire, wie: „dr Jörä -Tönul“, „dr Mütsche-Geischt“, „s’Butze- Unghüür“, „de Rigi-Tüüfel“, „s‘Pfäfferloch“, „dr Pieper“.
Seine Vorbilder waren Georg Langenegger „Egg-Basch“, Alois Suter „Lisabethler“, Lienhart Betschart „Lieneler“, alles Schwyzerörgeli-Pioniere aus dem Muotatal. Von diesen hörte er die Melodien, nahm sie in sich auf und kombinierte auch eigene Tänze, wobei Überliefertes mithineingeflossen ist. Ein Kenner der Sparte beschrieb es einmal so: „In Gwerders Spielweise und Melodik sind altertümliche Elemente vorhanden, ja zum Teil fremdartige Töne oder gar Akkorde anzutreffen, was auf urwüchsige Tradition hinweist. In dieser musikalischen Eigenheit findet sich wahrscheinlich ein Rest alter Melodik wieder, wie sie in skandinavischen Ländern, in Schottland oder im Tirol noch vor unserer heutigen Dur- und Moll-Stimmung bestanden haben muss“.
Am Güdelmäntig (Montag vor dem Aschermittwoch) 1930 spielte Rees im Restaurant Alpenrösli in Schwyz erstmals zum Tanz auf, von 14.00 Uhr nachmittags bis 04.00 Uhr anderntags in der Früh, für eine Gage von 18 Franken. Das war der Auftakt seiner erfolgreichen Musikantenlaufbahn. Seine Auftritte sind ebenso legendär wie seine persönliche Aufmachung mit Bergler-Gewand, Herkules Hosenträgern, Hirthemd, Bergschuhen und immer einer krummen Brissago im Mundwinkel. Eine Eigenart war auch seine Lieblingsspeise, die er sich in einer Pause oder aber nach getaner Arbeit genehmigte: Bauernbratwurst mit Rösti, Mineralwasser oder Milch, Weinkaffee (Kaffee mit Wein gemischt mit 5 Stück Zucker) und eine Prise Schnupftabak.
Anfänglich musizierte er mit Adolf Schelbert „Rössli Adolf“, Anton Betschart „Jackä-Tönel“, und Paul Suter „Frutler“ zusammen. In den späteren Jahren mit Josef Gwerder „Fäzel“, Thomas Marthaler, Alois Inderbitzin, Dominik Marty „Sity-Domini“, Paul Lüönd „Mosi Pautsch“, Seebi Schmidig, Sepp Gisler „Axiger-Sepp“, Peter Ott, und vielen anderen. In den letzten 30 Jahren war Ludi Hürlimann sein bevorzugter Begleiter.
1962 machte er auf Initiative von Thomas Marthaler die ersten Plattenaufnahmen in Zusammenarbeit mit Fredy Wettler als Toningenieur. Über 120 Titel sind auf Schallplatten und Tonkassetten aufgenommen worden. Seine Popularität und Beliebtheit unterstreichen diverse Radio- und Fernsehauftritte. Als Vertreter der alten Volksmusik musizierte er auch im Ausland. Mit 80 Jahren spielte er seinen letzten Tonträger ein und 1995 trat er zum letzten Mal öffentlich auf. Lebenslänglich musizierte er mit unglaublicher Sicherheit und Ausdauer.
1945 verehelichte er sich mit der Witwe Josefina Inderbitzin und zog nach Arth, weit oben über dem Zugersee. Drei Töchter, unter ihnen eine Stieftochter, zählten zur Familie Gwerder, die das Bergheimet Gängigerberg bewirtschafteten. Die letzten fünf Jahre seines Lebens verbrachte Rees Gwerder im Altersheim Hofmatt in Arth. Der Wegzug vom Heimet und die Umstellung konnte er, trotz liebevoller Pflege im Heim, nie verkraften. Sein Lebenswille und die Kraft zum Schwyzerörgelispiel verliessen ihn zusehends und er zog sich immer mehr zurück.
Rees Gwerder starb am 4. Januar 1998. So wie er es sich wünschte, schlief er beim Klang seiner eigenen Melodien friedlich ein.
Über Jahre hinweg vermittelte er sein Können an die Jungen und an eine Vielzahl von Erwachsenen. Es ist dem Musikanten Gwerder zu verdanken, dass viele traditionelle Melodien nicht in Vergessenheit geraten sind. Als in den 1960er Jahren die Ländlermusik wieder vermehrt Fuss fasste, durfte Rees Gwerder an dieser neuen Begeisterung einen bedeutenden Anteil für sich buchen.
Für seine Verdienste in der Schweizer Volksmusik wurde er mit dem „Goldenen Tell“ geehrt. Zudem ist er Preisträger des „Ehren-Oski“, nebst weiteren wertvollen Auszeichnungen und Goldkränzen aus Wettspielen. Im Dokumentarfilm „UR-Musig“ von Cyrill Schläpfer spielt er die Hauptrolle. Trotz seiner Berühmtheit ist Gwerder Rees ein einfacher Bergbauer und Landsmann geblieben. Hie und da war er etwas wortkarg, eigenwillig, dafür aber unverfälscht und geradeheraus, volkstümlich und fast ein wenig verdreht. Er war so etwas wie ein Mensch aus einer anderen Epoche.
Über Jahrzehnte hinweg durften wir sein Können, sein traditionelles Schwyzerörgelispiel, bewundern und geniessen. Viele Rees-Tänze bleiben uns als Erbe zurück. Walzer, Polka, Schottisch, Massolker (Mazurka) werden uns fortan an Gwerders musikalisches Wirken erinnern. Der Muotathaler hatte ein reiches Leben und eine beispielhafte Energie und setzte sein Wirken mit grosser Liebe für seine Sache ein. Der chutige und knorrige Klang seines Schwyzerörgelis mit der unverkennbaren Stil- und Meistermarke ist verstummt. Solange die Schweizer Volksmusik besteht, wird auch der Name Rees Gwerder erhalten bleiben. Für alle die ihn kannten und ihn schätzten, wird er unvergesslich bleiben.
Es ist mir ein Herzensanliegen, Rees persönlich und stellvertretend für alle Volksmusikanten und Freunde den letzten Gruss auszusprechen und sage ihm nicht „Ade“, sondern „Auf Wiedersehen“!
Josef Anderrütti, Schattdorf