Portrait Cyrill Schläpfer: Der Liebhaber 1994
Aus: Verkaufte Volksmusik von Christian Seiler für "Weltwoche-ABC-Verlag", Zürich 1994Ein Appenzeller Chlausenschuppel zäuerlet am Alten Silvester von Urnäsch. Rees Gwerder tritt im Zürcher „Rietberg“ auf. Von Urner, Nidwalder und Schwyzer Alpwirtschaften schicken die Sennen Betrufe ins Tal. Im Appenzell formiert sich ad hoc eine Kapelle und probiert Streichmusik. Die weitgereisten Cracks der Volksmusik unterrichten daheim ihre Kinder. Kühe werden in den Stall gelockt. Der Schnee liegt in den Schattenbuchten der Südhänge. Wolken ziehen über die Mythen. Ockergelbe Gipfel ragen aus der Hochnebeldecke wie die schweissnassen Köpfe der Musikanten aus dem Qualm der Wirtschaft.
„Mit Respekt“ widmet Cyrill Schläpfer seinen Film „UR-MUSIG“ „den traditionellen Musikern, den naturverbundenen Berglern und den sturen, querstehenden Grinden aus dem Appenzell, dem Muotatal und der Innerschweiz“. Damit hat er, was in diesem Film auf der Leinwand passiert, schon festgeschrieben: Es wird gejodelt und gesungen, getanzt und gespielt, es wird auf die Alp aufgezogen und das Vieh in den Stall getrieben, und zwischendurch packt irgendwer das Schwyzerörgeli aus dem Kasten, raucht sich eine Krumme an und spielt auf: Heissa.
Dieser Cyrill Schläpfer ist ein Hagermann, Jahrgang 59, mit der Neigung zu ständiger Unzufriedenheit. Er kann gut stöhnen. Im Stöhnen formuliert er, wofür er keine Worte finden will: Geldnot, Zeitnot, schwierige Klienten, technische Probleme.
Schläpfer besitzt, nein, ist „ CSR Records“. Als ob da noch jemand wäre.
Nun ist CSR Records mit Sicherheit das interessanteste, wenn auch kleinste Volksmusik-Label der Schweiz. Schläpfer sammelt Volksmusik aus Leidenschaft, er musste selbst eine Pirouette drehen, bevor er ausgerechnet in der Folklore landete. Er, Appenzeller Bürger aus Wald, spielte Rockmusik und Reggae mit den X-Legs, wollte sich am „Berklee College of Music“ zum Schlagzeuger und Musikproduzenten veredeln lassen, Probierte es, wieder zurück in der Schweiz, mit Country-Kapellen und einem Produktionsjob bei einer Plattenfirma, dann vernahm er etwas Neues, Unerhörtes: Schwyzerörgeli-Musik mit einem unverwechselbaren Takt.
Es war nicht das Lüpfige, das Anpasserische der Schweizer Volksmusik. Es war der „Blues - die melancholische Grundstimmung“ einer Musik, die „bekanntlich auf erstes Hören hin einen heiteren, unbeschwerten Charakter“ ausstrahlt und erst „bei einer intensiveren Auseinandersetzung“ (Schläpfer) einen Blick in ihre seelischen Abgründe gewährt.
Der seltsame Groove war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Er gehörte Rees Gwerder, dem Altmeister unter den Schwyzerörgeler. Gwerder war sein eigener Konservator: So jenseitig stur, dass er sich weder seine innerschweizerischen Xenophobien noch die altväterischen Kniffe auf dem Schwyzerörgeli ausreden liess.
Schläpfer übte mit Rees Gwerder trotzköpfiges Schweigen, das Verständnis und Diskrepanz gleichzeitig ausdrückte, dann machte er mit ihm eine Platte „Ä g‘hörige Schnupf“. Schläpfer nahm bei Gwerder zu Hause in der Stube auf, inhalierte die Atmosphäre und liess sich durch ein paar falsche Töne nicht stören. Es ging ihm um den Auftritt, um die Stimmung, die intakt bleiben sollte, nicht um technische Perfektion. Es sollte leben auf der Platte, riechen, und wenn einer einen krachen liess, krachte es eben.
Die Sorgfalt, im richtigen Moment nachlässig zu sein, macht Schläpfers Platten aussergewöhnlich. Sein Programm ist schmal, erlesen und plausibel. Er nahm zauernde Silvesterchläuse in Urnäsch auf und brachte mit ihnen seine vielleicht eindrucksvollste Produktion „Am alte Silvester z‘Urnäsch“ zustande. Inzwischen sind das zweite Rees Gwerder-Album erschienen und eine Hackbrett-Platte mit Walter Alder. Das ist schon alles, sieht man von der phantastischen Doppel-CD „UR-MUSIG“ ab, die nichts als die Tonspur zu Cyrill Schläpfers gleichnamigem Film trägt, aber dieser Film ist, stöhn, eine andere Geschichte, - und dann ist da noch diese Produktion mit Christine Lauterburg „Echo der Zeit“, ein, stöhn, Erfolg, der 20 Stunden pro Tag erarbeitet werden musste, weil Schläpfer sich einbildet, den Vertrieb seiner Platten selbst machen zu müssen, und das ist natürlich wieder eine andere „andere Geschichte“.
Für „UR-MUSIG“ war Schläpfer vier Jahre lang auf der Pirsch, bewegte sich auf leisen Sohlen auf der Diagonale Appenzell - Muotatal. Er sammelte kostbare Momente. Wenn es irgendwo besonders laut war oder leise, packte er die Kamera aus und liess laufen. Er wollte einen Musikfilm machen, nichts als Musik. Gut, dass er diesen Begriff so weit fasste. Das Klingen der Kuhglocken war ihm genauso Melodie wie das liturgische Betrufen verschiedener Sennen oder der alkoholische Wirtshauswirbel.
Schläpfer spürte kauzige Köpfe, Vollbärte, Zahnlücken auf, sortierte sie, schaute hin, um sie zu verehren.
Nie diffamiert er. „UR-MUSIG“ sammelt. Sammelt die Töne der handelnden Landschaften und Personen. Die Töne dürfen falsch sein, nein, ungewohnt klingen. Sie dürfen anstrengen, matt sein, lange nicht poliert. Sie müssen nirgendwo Mitglied sein, sind unverheiratet, wild. Wenn der Begriff im Zusammenhang mit Musik jemals etwas taugen würde, Freiheit, dann hier: Denn die pressure-groups, die der schweizerischen Volksmusik ihre Freiheit nehmen, indem sie diese unausgesetzt proklamieren, haben ihre Fingerabdrücke nicht hinterlassen, wo Schläpfer sammeln ging.
„UR-MUSIG“ ist Schläpfers „opus magnum“ und ein fulminanter Erfolg. Fast drei Jahre lang lief der Film am Sonntagvormittag in den grossen Schweizer Städten. Schläpfer hat mit seiner Leidenschaft einen Nerv getroffen, und, stöhn, langsam allerdings auch ins Licht eines fanatischen Konservators gerückt, eines Ethnologen in Sachen eigener Vergangenheit. Das ist allerdings nur ein Aspekt seines Schaffens.
Die Irritation war gross, als Schläpfer, gerade noch weithin gelobt für seinen Film, mit einer neuen Produktion an die Öffentlichkeit trat. Die CD hiess „Echo der Zeit“ und ist der genaue Negativabdruck von „UR-MUSIG“. „Echo der Zeit“ schreibt Zukunft fest. Schläpfer und die Jodlerin Christine Lauterburg kombiniert Jodel und diverse Pop-und Technosounds. Sie klauben aus den diversen Musiken unserer Zeit heraus, was ihnen gefällt und setzen es neu zusammen. Das Ergebnis ist ein in jeder Hinsicht irritierendes Album. Traditionals wie „Anneli“ sind für die Disco parat, strahlen in neuem Glanz. Sie haben die Last der Vergangenheit abgeschüttelt und erreichen daher ein neues Publikum, das bisher vom Jodeln nichts wissen wollte.
Vor fünf Jahren hatte Schläpfer mit fast John-Cage-mässiger Begeisterung zugehört, wie Lauterburg in ein Hackbrett hineingejodelt hatte, um neue Klänge zu gewinnen. Daraus war das gemeinsame Projekt entstanden, und dieses Projekt war dank Cyrill Schläpfers grosser Selbstverständlichkeit, das, was er für richtig hält, um jeden Preis durchzuziehen, in einen Meilenstein schweizerischer Musik gemündet. Richtig ist, was gefällt: Cyrill Schläpfer darf sich als einer der wenigen so eine Behauptung leisten, weil er den dafür notwendigen Geschmack besitzt.
Cyrill Schläpfer war der richtige Produzent für dieses Album, weil er wie kaum ein anderer die Schweizer Musik von innen kennt. Er hat erkannt, dass die Seele von einem Schwyzerörgeli-Tänzli, das Rees Gwerder spielt, nicht anders aussieht als die eines Techno-Jodels von Christine Lauterburg. Das ist eine gewaltige Einsicht. Damit hat Cyrill Schläpfer schon heute das Wesen der Schweizer Musik verändert, und zwar zum Besseren.