Swiss Rudiments: Ur, Schwyz und Unterhaltung

von Albert Kuhn für 'O-TON' 4/1994

 

Cyrill Schläpfer suchte und fand Jahreszeiten und “Ur-Musig”

Er ist Schlagzeuger, Tonproduzent, Filmproduzent, Schwyzerörgeli- und Hackbrettspieler. Er ist schwierig, weil die Gegenwart so kompliziert und zerstreut ist. Wäre es anders, wäre er anders. Adorno sagte: “Es gibt keine richtige Welt in der falschen.” Auch keinen richtigen Umgang mit unseren Rudimenten, unseren zurückgebliebenen und verkümmerten Körperteilen, unserer ehemaligen Volkskultur und ihren zyklischen Erscheinungsformen. O-TON traf Cyrill Schläpfer

Die neuste CD von Cyrill Schläpfer beginnt mit leisem Kuhglockengeläut. In drei Sekunden von null auf hundert Stück Grossvieh, als ob der Bergwanderer um eine letze Felswand auf die offene Alp träte. Wir hören “es ruuchs Glüüt”, das heisst, die Glocken sind nicht von einem Bauer sorgfältig aufeinander abgestimmt, sondern Rinder aus verschiedensten Ställen treffen sich zur unvorbereiteten Sommersession. Dass es Rinder sind, ist an den Treicheln zu hören, den nicht gegossenen Schellen. Schellen sind aus Blechen geschnitten, gebogen, geschmiedet oder gelötet. Glocken sind gegossen, deshalb zerbrechlich, also nichts für Rinder. In der Mundart allerdings heissen die Glocken Schellen und die Schellen Treicheln. Die ersten bimmelnden Sekunden vermitteln noch einen undifferenzierten Eindruck von Nähe, dann geht das Ohr auf und erfasst die ganze Spannweite dieses mächtigen Orchesters. Das rauhe Geläut nimmt seinen unberechenbaren Gang, einmal lauter, einmal im Rinderrennen rhythmisch koordiniert, dann wieder ruhiger, ein lautes Muhen bei Minute zehn. Und im Vordergrund immer wieder diese prächtige, schällige Kuh mit einem grossen, obertonreichen A. Nach gut siebzig Minuten ist Ruhe. Dies war eine Plattenbesprechung.

Leere Schweizer Hände

Zürich, Kreis 4, renovierte Dachwohnung. Cyrill Schläpfer stellt den CD-Player ab und zuckt mit den Schultern. “Das hab‘ ich für mich gemacht, das Glüüt. Wenn ich nach Amerika auswandere und krank werde vor Heimweh, dann halt‘ ich‘s länger aus damit.” In Luzern aufgewachsen, nach eigenen Angaben als Lausbub, dann Tambour, dann Schlagzeuger mit Band, - X-Legs hiess sie und war national bekannt für Reggae. Weil ihm aber zuwenig lief (es läuft ihm immer zuwenig), schrieb sich Schläpfer 1982 an der Berklee School of Music ein. Dort fiel ihm auf, wie sich die Südamerikaner zusammensetzten und Salsa spielten, die Schotten Jigs, die Franzosen Chansons, die Italiener Canzoni Negroni und die Norweger Hammerfestivitäten. Bloss die Schweizer standen mit leeren Händen da, und von den andern zum Spielen aufgefordert, verweigerten sie standhaft Guggisberglied und Steinerchilbi. Da gibt‘s eine Geschichte von einem Turnverein aus Hasele-Rüegsau oder so, da fuhren die Jungen nach Jugoslawien in die Ferien, lang ist‘s her. Sie lernten Kroaten kennen, Altersgenossen, tranken und kommunizierten, schliesslich begann man kroatischerseits zu singen, ein Lied nach dem andern, die Schweizer freuten sich - aber waren urverlegen, als man ihnen bedeutete, es wäre jetzt an ihnen, etwas zu singen. Es Buurebüebli? S‘Ramseyers? Grosser Gott, wir loben Dich? Immer war es mindestens der Hälfte zu blöd. Oder man kannte nur die erste Strophe. Da einigten sie sich auf Folgendes: Sie intonierten in einstimmigem Sprechgesang das Wort “Heylanddonner”, kräftig, überzeugt, erlöst - “Heylanddonner”, immer wieder, und die Kroaten zeigten sich sehr beeindruckt.

Cyrills Schleppstreich

Nun ist dies hier wohl lustig und jenes in Boston vielleicht ehrlich. Aber trotzdem irgendwie erbämlich. Da ist eine Party, alle bringen etwas mit, naschen voneinander, lernen voneinander - die multikulturelle Begegnung, wie sie im Büchli steht. Aber die aus der Schweiz haben partout nichts dabei, und die paar Folklorenkrümel, die sie noch in den Taschen finden, rücken sie erst recht nicht raus. Es ist die Lage, die erbärmlich ist, klar.
Bei Cyrill war es nun so, dass er als Tambour tatsächlich ein paar Schweizer Trickli dabei hatte, auf die die andern richtig scharf waren. Der Schleppstreich zum Beispiel, die exklusive Kunst, mit einem Schlegel von hoch oben und mit dem andern von knapp über dem Fell gleichzeitig laut und leise zu landen, nur fast gleichzeitig eben. “Hey - swiss rudiments!” riefen die internationalen Kameraden begeistert und wussten, was kaum ein Schweizer Rockschlagzeuger weiss: Dass der gradlinige Hardbop-Swing der Art Blakey-Dynastie gerade auf diesen traditionellen Schweizer Tambourengrundlagen aufbaute und sie filigran perfektionierte.

Tönende Felsen und Täler gefunden

Zurück von Boston interessierte Schläpfer, was da von unseren verkümmerten Körperteilen noch geblieben war. Fuhr auf den achtzigjährigen Fels Rees Gwerder auf und zerschellte fast vor Begeisterung. Da hat einer den Zustand lebendiger Volksmusik mit allen Geschliffenheiten trotz Anfechtungen und widriger Lebensumstände in sich aufbewahrt, sieht sich am Altersheim-TV die Welt an, schüttelt den Kopf, schlurft knurrend zum Kleiderschrank, lüpft sein Eichhorn-Oergeli heraus und spielt eine andere Welt zum Aermel heraus. Während der Fernseher ohnmächtig weiterläuft.
Was gibt es da zu sagen? Zum Beispiel Cyrill Schläpfer: So genau wusste er wohl selbst nicht, was er mit “UR-Musig” eigentlich ausdrücken wollte, dem eigenartigen Film um die Figur Gwerder, mit den tönenden Tälern, den Betrufen, dem Dunkelgrün, woraus Nebel steigt, den Bauernfamilien, den Höfen, den Rindern und Kühen, von denen es jährlich weniger gibt. Er wusste einfach, dass er diesen Film machen musste. Nun ist mittlerweile evident, dass der Film fasziniert, es ist abzusehen, dass es ein Langstreckenrenner wird.

Ein langer Einakter ohne Absicht

An den diesjährigen Solothurner Filmtagen lief “UR-Musig” zum Auftakt. Aber Schläpfer reiste schon am Dienstag wieder ab. Er habe lauter Tips zu hören bekommen: Der sei ja schon recht, dieser Film, aber - und nun gaben alle einen andern Rat - er habe zuviele Betrufe, sei zu lang, es fehle ein Kommentar, es kämen zuwenig Frauen vor. Vom Swissair Inflight Entertainment wiederum war zu hören, die Landschaften seien nett, aber die Leute zu wenig schön und die Frauen zu unvorteilhaft dargestellt. Warum? Sie schwitzen.
Was hat man gemacht, wenn einem alle schulterklopfend Tips erteilen? Man hat entweder Mist gebaut. Oder etwas Neues erfunden, etwas jedenfalls, das sich nicht oder noch nicht einordnen lässt. Damit hat dann häufig das Fachpublikum mehr Mühe, als die einfacheren Kinogänger. Denn das Neue kommt nie dorther, wo man es erwartet. Ich möchte hier also in den Alpenraum stellen, dass es sich bei “UR-Musig” um einen neuartigen Film handelt, der in seiner einfachen, selbstverständlichen Willkür einen Hauch Godard hat, in seiner kustvoll lapidaren, feststellenden Sprache etwas von Hertz (der besten CH-Band aller Zeiten), in seiner sorgfältig trockenen, liebenden Art etwas von Robert Walser und wäre Robert Altman alpin, würde er vielleicht so filmen. Auch “UR-Musig” ist eine scheinbar absichtslose Abfolge von Szenen vor einer bestimmten Kulisse, ein langer Einakter ohne Absicht, liebe ZuschauerInnen, und macht damit, was ihr wollt.
Obwohl ihn mir Schläpfer beschrieben hatte, gebe ich sofort zu, dass ich mir den Film einfach nicht interessant vorstellen konnte, ich war sogar auf gepflegte Langeweile gefasst. Aber dann schaut man 105 Minuten gebannt zu, lacht, staunt, lehnt sich zurück, rätselt. Warum kommt einem das, was sich höchstens fünfzig Kilometer entfernt abspielt, exotischer vor als Ferien auf den Malediven? Das ist die Frage, die “UR-Musig” stellt, ohne sie aussprechen zu müssen. Sie ist vielleicht mit einer andern Frage zu beantworten: Ein 90 Minuten-Streifen aus unserem Leben, aufgenommen 1955 oder 1987 an einem Montagmorgen - warum würde uns der faszinieren, beklemmen und ziemlich hernehmen?

Zyklus im Zyklus

Die Administration, welche ihm seine Non- und Low-Profit-Unternehmungen diktieren, das - -- Stetserreichbarseinmüssenweilkeineangestelltenbezahlenkönnenunddeshalbmitdemnatelaufdiepostrennen,- hauen ihn fast um. Aber Cyrill Schläpfer kann gar nicht anders, als weitermachen. Nach dem “UR-Musig”-Soundtrack folgte “s‘Glüüt”, aufgenommen am 11. September 1992 auf der Alp Alggäu, Kanton Obwalden - die erste CD der Reihe “True Tone”, einem Zyklus von unkommentierten Klanglandschaften.
Und als Zyklus innerhalb dieses Zyklus‘ folgt als nächster Streich eine Serie von Jahreszeiten-CD‘s: Der Frühlingsanfang aufgenommen auf dem Dürrenboden ob Arth, Kanton Schwyz, am 21. März 1990 morgens ab 5.39 Uhr, wir hören vor allem Vögel und Cityliners. Enten, Grillen, Motorböötli und Badende hören wir auf dem Sommeranfang vom 21. Juni zwölf Uhr mittags auf der Insel Ufenau. Im Wägital wurde am 21. September am späten Nachmittag der Herbstanfang aufgezeichnet, mit einem schönen, ruhigen Herbstgeläut von gut drei Dutzend Kühen. Auf dem Soundtrack des Winteranfangs schliesslich, so Schläpfer, “ghörsch uf em Stoos obe d‘Chüe-n-im Stall, znacht, wi‘s schnuufid ond schiissid.” Vier Stunden - psst - Schweiz.

Da war einmal etwas

La Suisse n‘existe pas. Das aber täglich. Schläpfer arbeitet an der Massenpsychoanalyse dieses verschwindenden Nichts, indem er uns zeigt, dass da - auch da, nicht weniger als in Nepal oder Ghana - einmal etwas war, das wir nun Stück für Stück zu Boden hunden. Swiss Rudiments. Dass es kein Zurück gibt und dass wir selber schuld sind, wissen wir viel eindringlicher, wenn man es uns nicht sagt.

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