Yo!del - Volksmusik im Hier und Jetzt
von 'lr' für 'NOTES', April 1994Christine Lauterburg
Wenn man "Schweizer Popmusik" sagt, denkt man an Yello und - äh - Gotthart. Und ab sofort vor allem an Christine Lauterburg.
Stellen wir uns vor, es gäbe in Deutschland eine Art der Volksmusikinterpretation, die Karl Moik und der Rrreiber Carrrolin die Zornesröte in die Gesichter treibt, weil sie so ungewöhnlich ist und so meilenweit vom Musikantenstadl entfernt, dass diese beiden Gralshüter des Grauens horizontmässig schlicht überfordert wären. Fänden wir diese Musik gut? Wir fänden! Mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit. In der Schweiz gibt es nun einen Menschen, der heisst Adolf Stähli. Er ist Mitglied im eidgenössischen Jodelverband und so etwas wie der "helvetische Jodelpapst". Er - der Papst - reagierte auf Christine Lauterburgs Debütalbum «Echo der Zeit» mit den Worten: "Eine Sauerei, ein hässlicher Eingriff in unsere Jodeltradition!" Herr Stähli ist also sauer auf Christine Lauterburg. Und das zeigt, dass Herr Stähli, der alte Musikreaktionär, ein kapitales Rad ab hat. Denn «Echo der Zeit» ist ein durch und durch phantastisches Album!
Christine Lauterburg lebt in Bern und hat in traditionsbewussten Kreisen längst den Ruf eines "Enfant Terrible" der Schweizer Musikszene weg. Sie, die Schauspielerin und Sängerin, interpretiert den Jodel nicht im Sinne dirndlseeliger Heile-Welt-Sehnsucht, sondern in der Urform rauher Jodellieder. "Jutz" wird dieser "Originaljodler" genannt. Die Stimmakrobatik, die der Jutz der Künstlerin abverlangt, ist faszinierend. Bis in die höchstmöglichen Lagen schlägt die Stimme hinauf und schliesst mit Trillern und verschmelzenden, lang anhaltenden Tönen ab. Der Jutz ist das Mittelding zwischen Jodel und Urschrei, er kommt für ungeübte Ohren oft recht nahe an indianische, unartikulierte Gesangslinien heran, was sich in dem Track «Geissel Drama» auch rhythmisch niederschlägt. «Echo der Zeit» macht die Entstehung des Jodelns deutlich, das ursprünglich eine Form der Verständigung war. Von der Alm oder der Matte ins Tal zu kommunizieren war früher, als es weder Telegramme noch Handy gab, halt recht schwierig, mit dem Jodeln entwickelte sich eine Form des Rufens, die sich in der Bergwelt als sehr tragfähig erwies. "Schau herauf, ich bin hier oben" wurde da beispielsweise gejodelt, und je durchdringender der Jodel, desto höher die Wahrscheinlichkeit, entdeckt zu werden.
Christine Lauterburg nutzt den Jodel auf ihre Art ebenfalls als Kommunikationsmittel. Sie stellt einen absolut fesselnden Dialog zwischen Tradition und Moderne her und das Ergebnis: "Dancefloor-Jodel im Ambient- und Popkontext". Zusammen mit dem Volksmusiker und Regiesseur Cyrill Schläpfer und dem Dancefloor-Produzenten Pascal de Sapio geht sie dabei so behutsam und respektvoll mit der traditionellen Musik um, dass von deren aktueller Vitalität ein wunderschönes Zeugnis entsteht. «Echo der Zeit» hat wenig zu tun mit dem Ethnopop vom Schlage Andiemus (oder dieser Indianernummer, deren Namen ich mal wieder überhaupt nicht parat habe), sondern ist ein spannungsgeladenes emotionales und berührendes Album geworden. Was wiederum nicht heisst, dass es etwa schwierig und unzugänglich sei. Im Gegenteil: In der Schweiz stand es mehr als 10 Wochen in den Top-Ten. Es hat einfach mehr Qualität als alles, was ich bisher in dieser Richtung gehört habe. Denn zu keinem Zeitpunkt scheinen Distanz oder relativierende Ironie zur Volksmusik durch (so etwa: "ha, jodeln ist ja so schlecht, dass es schon wieder gut ist. Lass uns mal 'nen Dancefloorbeat drunterlegen, das wird bestimmt ein Erfolg"), wie es z.B. bei dem ganzen unsäglichen Schlagerrevival der Fall ist.
Wie ernsthaft sich Christine Lauterburg und ihre Mitstreiter mit dem Projekt befasst haben, zeigt allein die Tatsache, dass die Arbeiten am Album nicht weniger als fünf Jahre gedauert haben. Cyrill Schläpfer erklärt das so: "Jodel ist das Resultat einer langen Entwicklung. Also muss auch das Zusammenfliessen von Jodel und aktueller Popmusik langsam passieren." Christine Lauterburg ergänzt: "Jodel ist eine starke Sehnsucht und etwas zutiefst Archaisches. Mir war es wichtig, das in die Computerwelt hineinzubringen und dem Gefühl den notwendigen Raum zu geben. Ziel bei meiner Art von Jodeln ist ja, selbstverständlich gerade und schmucklos singen zu können, also förmlich das Herz zu öffnen. Dies zu Dancefloorgrooves im Studio zu tun, war für mich eine ganz neue Herausforderung." Das Herz öffnen - das tut «Echo der Zeit» auf zauberhafte Weise. Die Jodel Christine Lauterburgs lassen sich erstaunlicherweise in eine Reihe stellen mit dem Gesang einer Sinead O'Connor oder einer Enya. Hier wird aber nicht nur gejodelt, sondern auch "in echt" gesungen. Und zwar auf Schweizerdeutsch. Das verleiht den Stücken einen zusätzlichen Reiz, denn das klingt nicht etwa albern, sondern klasse. Die Gesangsstimme der Lauterburg ist ein angenehm warmer Alt, und die lyrischen Texte lassen Bilder entstehen, denen sich zu entziehen unmöglich ist.
Ein Übriges trägt die Produktion der Herren Schläpfer und de Sapio bei. Die rhytmischen Basistracks, die Melodien und Arrangements produzierten sie vor, und zwar mit grosser Liebe zum Detail. Neben Klängen aus dem Synthi sorgen Akkordeon und die traditionellen Schwyzerörgeli und Trümpi für ein interessantes Verschmelzen von Einstigem und Heutigem. Die fertigen Tracks bildeten die Basis für Christines Vokalimprovisationen. Das Ergebnis wurde in einer Art von Cut-Up-Technik weiterbearbeitet. Die einzelnen Jodelpassagen wurden geschnitten, neu zusammengefügt, mit "Natursounds" gepaart. Ausserdem wurden in dieser Phase auch die Rhythmuselemente experimentell neu arrangiert. Das Ergebnis entfachte in der Schweiz wahre Begeistertungsstürme (ausser natürlich beim eidgenössischen Jodelverband und dessen Papst Stähli). Fast 15 Jahre nach Yellos Klassiker «Solid Pleasure », so dle heimische Presse, habe die Schweizer Popmusik einen weiteren Meilenstein hervorgebracjht. Nun ist es an Deutschland, Christine Lauterburg ins Herz zu schliessen - dürfte eigentlich kein Problem sein...
Stücke wie «Tanz Tanz!», «Funki Trümpi» oder «Geissel Drama» haben durchaus das Zeug, sich in die Charts zu grooven oder gar von alerten jungen Werbestrategen als Spot-Hinterlegung entdeckt zu werden. Dem Album würde das einen verdienten Schub geben, auch wenn es ja eigentlich recht traurig ist, dass ein grosser Kreis unter uns Bundesbürgern seinen musikalischen Horizont mittlerweile aus Werbesots bezieht (so hat Henry Maske einst auf die Frage, warum er Orff's «Carmina Burana» als "Einzugsmusik" gewählt habe, tatsächlich geantwortet, er habe es in der Opelwerbung gesehen und "gut gefunden". Seufz...). Übrigens ist die Musik Christine Lauterburgs bereits film- und funkerfahren: «Echo der Zeit» , der Titeltrack des Albums, ist die Erkennungsmelodie des Schweizer Rundfunks DRS, die Händel-Bearbeitung «Handel With Care» (sehr lustiger Titel übrigens) wird vom Schweizer Fernsehen genutzt.
Wieder so'n Beweis: Jodeln hat nichts mit stehengebliebener Zeit zu tun, obwohl viele traditionelle Stücke auf «Echo der Zeit» zu finden sind. Meine Favoriten in diesem Zusammenhang sind «Anneli» und «Stets in Truure», zwei Stücke, die Herrn Stähli besonders um Fassung ringen lassen werden - schliesslich wird in diesen "Fällen" nicht nur der Juutz, nein, hier werden gleich ganze Volkslieder "versaut". Uns soll's natürlich freuen... «Echo der Zeit» ist insofern auch ein programmatischer Titel, als dass im Nachhall jedes Stückes das Echo der Urform dieser Art von Volksmusik zurückkommt. Und es ruft uns zu: "Toll toll toll!" In den Credits des Booklets dankt Christine all jenen, die ihr gesagt haben, "dass sie es mögen wenn ich singe. Das gab mir Mut." Was bleibt mir da, als es von Herzen niederzuschrieben: Christine Lauterburg, ich mag es. Sehr sogar. «Echo der Zeit» ist meine persönliche Platte des Jahres.