Naturjutz im Asphaltdschungel
von Samuel Mumenthaler für 'Berner Zeitung' 28. September 2009«Ich habe nie geglaubt, dass man etwas bis auf den letzten Ton lernen soll, um es dann möglichst gut kopieren zu können», sagt Christine Lauterburg. Eigentlich beschreibt die Jodlerin, Handorgelspielerin und Violinistin mit diesem Satz ihr Verhältnis zur Rockmusik. Sie trifft damit aber auch ihr eigenes Schaffen, das sich an die Schweizer Volksmusik anlehnt, ohne einfach das wiederzugeben, was überliefert worden ist. Lauterburgs bisher erfolgreichste CD heisst «Echo der Zeit»: Ein Album, das der extravaganten Jodlerin Türen öffnete und von Seiten der Traditionalisten und Puristen für geharnischte Reaktionen sorgte. Ein Album, das den Jutz und das Schwyzerörgeli zurück auf die Tanzböden brachte, wo sie hergekommen waren. Ein Album, das tradiertes Liedgut auf zeitgenössische Sounds prallen liess, Jodel zu technoidem Pop machte. Der Volksmusikkenner Cyrill Schläpfer mischte im Team mit dem Dancefloorproduzenten Pasquale de Sapio Housebeats und Samples zu Lauterburgs Jodelstimme und macht sie so auch für ein urbanes Publikum interessant.
Fünf Jahre Arbeit steckten in dieser Produktion. Das Resultat wirkte bewusst artifiziell, es öffnete der Schweizer Volksmusik aber auch die Ohren einer ganz neuen Hörerschaft. «Echo der Zeit» schaffte es 1994 bis auf Platz 9 der Schweizer Popalbumcharts, mehr als 20000 Exemplare wurden abgesetzt. Heute, wo sich ein Popstar wie Bligg ungeniert mit der Streichmusik Alder zusammentut und sich eine ganze Generation von jungen Musikern nicht mehr davor scheut, Althergebrachtes zu zitieren und frisch und frei neu zu interpretieren, mag ein Mix von Jodel, Schweizer Volksmusik und Techno kaum noch grosse Wellen werfen. Doch als «Echo der Zeit» erschien, war die Verbindung von Heimatgefühl und Computertechnologie noch eine Provokation. Was Christine Lauterburg machte, brauchte Mut. Heute freut sie sich über die neue Lockerheit im Umgang mit der Volksmusik: «Es ist gut, dass die Leute auf nahe liegendere Musikformen kommen, auf eine nahe liegendere Sprache. Aber die Schweizer reagieren immer noch verschämt auf den Jodel.» Gerade bei der Post-68er-Generation, zu der «Chrige» gehört, wecken Jodel und Ländler ungute Erinnerungen an eine verhockte, eingeigelte Schweiz, an die belehrende Stimme von Radio Beromünster, ans «bluemete Trögli» und das konservative Gedankengut der SVP.
Zu Hause in Bolligen, wo Christine Lauterburg aufgewachsen ist, war «Ländler»-Musik kein Thema. Die Familie sang und musizierte zwar gemeinsam, aber eher klassische Sachen – und manchmal jazzte der Vater los. Christine besuchte die Schauspielschule, spielte in Deutschland Theater, stand – oft an der Seite ihres ersten Mannes Max Rüdlinger – für Filme wie «E Nacht lang Füürland», «Der Ruf der Sibylla» oder «Macao» vor der Kamera und galt bald als Hoffnungsträgerin des Schweizer Films. Doch die Schauspielerin tat sich schwer mit dem «leidvollen Material», das sie interpretieren sollte, sie zweifelte am Interesse des Publikums, fürchtete, die Leute zu langweilen. Dazu kamen die Arbeitsbedingungen auf der Bühne: «Bis zu drei Vorstellungen am Tag in einem Kleintheater, das würde ich heute nicht mehr durchhalten», sagt sie.
Ihre Beziehung zur Schweizer Volksmusik begann Christine Lauterburg in den frühen 1980er-Jahren zu intensivieren, nachdem sie den authentischen Jodel gehört hatte, dort, wo er herkommt: in den Alpen. Sie besuchte einen Jodelkurs in der Migros Klubschule, meldete sich beim Kantonalen Jodelfest an, erschien in «korrekter» Tracht und ersang sich das Prädikat «gut», das ihr den Zugang zum «Eidgenössischen» öffnete. Doch dem Kleiderzwang und vorgegebenen Gesangsstrukturen mochte sie sich auf die Dauer nicht beugen: Sie kombinierte das Trachtenoberteil auch mal mit einem Minirock und ignorierte die detaillierten Vorgaben des Jodelverbands, der verlangt, dass für die Vokalisationen beim «reinen» Jodel, der ohne sinngebundene Vokale funktioniert, in den tiefen Lagen das O und in den hohen das Ü zu verwenden sei. «Als Sängerin habe ich keine Lust, eine Rolle zu spielen», sagt Lauterburg. «Das habe ich ja im Theater gemacht. Ich will auf meine eigene Art singen, will jederzeit aufstehen können, ohne mich erst einsingen zu müssen, ohne einstudierte Bewegungen abzurufen. Ich verstehe mich als Gebrauchsmusikerin, ich bin eine Musikantin.»
Nach «Echo der Zeit» wären Christine Lauterburg viele Türen offen gestanden, auch die zum «grossen» Musikgeschäft. Doch sie beharrte auf ihrer Autonomie. Nach einem Autounfall, bei dem ihr damaliger Partner Zsolt Marffy schwer verletzt wurde, musste sich die Jodlerin, die eben Mutter geworden war, ohnehin neu orientieren. Der Volksmusik ist sie treu geblieben, in den verschiedensten Varianten. Die Rockmusik, die für sie auch Volksmusik ist – «bloss aus einem anderen Land» –, hat sie nur in ihren «Lehrjahren» Anfang der 1990er-Jahre beschnuppert, als sie in der Band ihres zeitweiligen Gefährten Housi Wittlin «mit sich alleine den Chor sang».
Im Trio 9 mit Wittlin und dem Bassisten Dani Lieder war der Jodel schon ein Stilmittel, das Housis rockigen Lumpeliedli ebenbürtig war. Heute spielt Christine Lauterburg in der Formation Aërope mit stilistisch offenen Musikern: Slide-Maestro Hank Shizzoe und Ochsner-Drummer Andi Hug kommen aus dem Rock, Bassist Michel Poffet aus dem Jazz und Markus Flückiger gilt als Schwyzerörgeler «extraordinaire». Temporär singt Lauterburg auch in den Formationen eCHo und Doppelbock. Am häufigsten aber ist sie allein unterwegs, nur begleitet von ihrer Geige und dem Langnauer Örgeli. Rund 250 Mal spielt sie im Jahr, an Hochzeiten und Konfirmationen, aber auch an Konzertengagements in China, Spanien, den USA – auf der ganzen Welt. Den 1.August 2009 feierte sie singend in Ecuador. «Da setze ich natürlich vermehrt auf den ‹Naturjutz› ohne Worte, quasi auf die Internationale des Jodels», sagt Lauterburg. «Ich singe nicht gern Lieder in einer Sprache, die niemand versteht.»
Der Eidgenössische Jodelverband und einige der grauen Eminenzen der Volksmusik, die sich früher über den eigenwilligen Jodel der selbstbewussten Sängerin mit dem wilden Haar empört und ihrer Musik jeglichen kulturellen Wert abgesprochen hatten, scheinen sich inzwischen beruhigt zu haben. «Kürzlich hat mich der Verband sogar angefragt, ob er mein Foto für seine Bildergalerie verwenden dürfe», freut sich Lauterburg. Wenn sie nicht unterwegs ist, arbeitet sie sich durch die riesige Kollektion von Volksmusikliedern, welche die Ethnologin Hanni Christen überliefert hat und arbeitet an ihrer nächsten CD «All-Ein». «Jutzen ist eine Art Therapie», sagt sie. «Es tut einfach gut, wenn man sich jeden Tag etwas vorsingt.»